'Parental Alienation' – elterliche Entfremdung: Die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Männern

Die Kinder wachsen und werden erwachsen – auch Kinder, die von einem Elternteil entfremdet wurden. Vielleicht sind es unsere Kinder – vielleicht sind wir selber Opfer einer elterlichen Entfremdung geworden. Es gibt kaum Forschung zur Frage, wie sich die Entfremdung von einem Elternteil auf die Psyche eines entfremdeten Menschen auswirkt. Doch das wenige, das wir zumindest wissen, gibt zu denken – gerade das Wissen darüber, welchen Einfluss die elterliche Entfremdung auf die psychische Gesundheit von männlichen Kindern und Erwachsenen haben kann.

Elterliche Entfremdung wird als ein psychischer Zustand definiert, in dem ein Kind, dessen Eltern sich in der Regel in einer konfliktreichen Beziehung nach oder während einer Trennung / Scheidung befinden, sich stark mit einem Elternteil (dem bevorzugten Elternteil) verbündet und die Beziehung zum anderen Elternteil (dem entfremdeten Elternteil) ohne legitime Rechtfertigung beendet. Elterliche Entfremdung ist durch die Weigerung eines Elternteiles, die Beziehung eines Kindes zu seinem liebenden Elternteil zuzulassen, gekennzeichnet. Der entfremdende Elternteil missbraucht Kinder als Verbündete in seinem Kampf gegen den anderen Elternteil, indem er das Kind wiederholt dazu ermutigt, den anderen Elternteil als böse, gefährlich oder gar der Liebe unwürdig zu betrachten. Dies geschieht durch ständige Beschimpfungen des entfremdeten Elternteils, Lügen, Übertreibungen, Ausblenden von Positivem und Hervorhebung von Negativem.

 

Elterliche Entfremdung entsteht, wenn ein Elternteil seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle über das Wohl des Kindes stellt

Das Konzept der elterlichen Entfremdung wird zwar von Fachleuten der psychischen Gesundheit auf der ganzen Welt seit vielen Jahrzehnten anerkannt, es wird aktuell allerdings aufgrund der eingeschränkten Studienlage nicht als eigenständiges Syndrom betrachtet. Dennoch: Fast alle Fachleute im Gesundheitswesen, die mit Kindern geschiedener Eltern arbeiten, erkennen, dass elterliche Entfremdung Tausende von Familien betrifft und enorme Schmerzen und Schwierigkeiten verursacht.

 

Es wurde vorgeschlagen, drei klinische Stufen der elterlichen Entfremdung zu unterscheiden:

 

  • Mild: Die Entfremdung ist vergleichsweise oberflächlich. Die Kinder kooperieren im Allgemeinen bei Besuchen, zeigen sich allerdings gelegentlich kritisch und unglücklich mit den entfremdeten Eltern.
  • Mässig: Die Entfremdung ist stärker. Die Kinder verhalten sich störender und unhöflicher gegenüber dem geschädigten Elternteil. Es gibt Übergangsprobleme zum Zeitpunkt des Besuches.
  • Schwerwiegend: Die Kinder stehen dem Elternteil so ablehnend gegenüber, dass ein Besuchsrecht unmöglich ist. Die Kinder verhalten sich übermässig feindselig bis hin zu körperlicher Aggression gegenüber dem vermeintlich ungeliebten Elternteil. In einigen Fällen erheben die Kinder gar extrem schwere Anschuldigungen gegen den abgelehnten Elternteil wegen unangebrachter Verhaltensweisen.

 

Die aktuelle Forschung zeigt auf, dass die elterliche Entfremdung vielfältige negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit männlicher Kinder und Jugendlicher haben kann. In den aktuell verfügbaren Studienergebnissen werden folgende Auswirkungen genannt. Schuldgefühle, Traurigkeit und depressive Stimmung. Dies ist wahrscheinlich auf einen schmerzhaften Loyalitätskonflikt zurückzuführen, sie können allerdings durchaus auch aus anderen Ursachen entstehen.

 

Geringes Selbstwertgefühl und mangelndes Selbstvertrauen

Bei Jungen ist die Identifikation mit einer männlichen Figur reduziert, insbesondere wenn der entfremdete Elternteil der Vater ist.

 

Verzweiflung und Frustration

Mangelnde Impulskontrolle, Drogenmissbrauch und kriminelles Verhalten. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die Anwesenheit von Vätern und deren Einfluss auf die Erziehung viel dazu beitragen kann, die Möglichkeit der Kriminalität bei Jungen zu verringern oder gar zu verhindern. Es existiert eine Vielzahl von Feststellungen, dass Heranwachsende besonders häufig externalisierende Verhaltensweisen wie beispielsweise Störungen des Sozialverhaltens zeigen, wenn sie in die ungelösten Streitigkeiten ihrer Eltern verwickelt waren oder sich zwischen ihren Eltern hin- und hergerissen fühlten.

 

Trennungsangst, Ängste und Phobien

Hypochondrie und erhöhte Neigung zur Entwicklung psychosomatischer Erkrankungen. Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche. Schlaf- und Essstörungen, einschliesslich Magersucht, Fettleibigkeit und Bulimie.

 

Erziehungsprobleme

Enuresis (Bettnässen) und Enkopresis (Einkoten). Als Auswirkungen der elterlichen Entfremdung auf die psychische Gesundheit von Vätern, die von ihren Kindern entfremdet wurden, werden Hilflosigkeit, Ohnmacht und eine zunehmende Verzweiflung genannt.

 

Väter, die den Kontakt zu ihren Kindern über Monate oder sogar Jahre nach der Trennung oder Scheidung teilweise oder gänzlich verloren haben, zeigen oft deutliche depressive Symptome und können selbstmordgefährdet sein, da der Verlust des Kontaktes oder die Einschränkung der Beziehung zwischen Kind und Vater eine sehr beunruhigende und schmerzhafte Erfahrung für beide darstellt. Einige entfremdete Väter versuchen, die schmerzhafte Situation durch Alkohol, Benzodiazepine und / oder andere Drogen zu bewältigen.

 

Gerade Fachpersonen im Gesundheitswesen sollten deshalb bei entfremdeten Vätern wachsam gegenüber Symptomen aus dem Formenkreis der Depression, Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung, Suizidalität und anderen psychiatrischen Erkrankungen sein. Die Suizidrate bei Männern ist in westlichen Ländern sehr hoch. Beispielsweise betragen die altersstandardisierten Selbstmordraten unter Männern (pro 100' 000 Menschen / pro Jahr) in den USA 19.4, in Deutschland 14.5, in Finnland 22.2, in Ungarn 32.4 und in der Schweiz 14.3. Weltweit begehen Männer drei bis zehn Mal häufiger Suizide als Frauen. Eine Begründung hierfür liegt darin, dass Männer tödlichere Mittel für einen Suizidversuch verwenden, häufiger Alkohol konsumieren und im Vergleich zu Frauen seltener psychiatrische und / oder medizinische Hilfe aufsuchen. Momentan existieren noch keine wissenschaftlichen Studien zur Frage, ob das Phänomen der elterlichen Entfremdung nur bei denjenigen Männern die Suizidgefahr erhöht, die als Kinder selber Opfer einer elterlichen Entfremdung wurden oder gar auch bei denjenigen Männern die Suizidgefahr erhöht, die als Väter von ihren eigenen Kindern entfremdet wurden. Dieser Aspekt ist bedeutsam angesichts der Feststellung, dass geschiedene Männer gemäss aktueller Studienlage eine 9.7 mal höhere Suizidwahrscheinlichkeit aufweisen als vergleichbare geschiedene Frauen.

 

Die aktuelle diesbezügliche Forschung stellt zumindest fest: Die Wahrscheinlichkeit, dass Väter, die nach einer Trennung oder Scheidung über Monate oder gar Jahre hinweg unfreiwillig auf den Kontakt zu ihren Kindern verzichten müssen, eine Depression entwickeln und möglicherweise in eine schwere suizidale Krise geraten, ist als hoch einzuschätzen. Der Verlust des Kontaktes, die Einschränkung der Beziehung zwischen Kindern und Vätern stellt eine sehr erschütternde und schmerzhafte Erfahrung dar, die sowohl für die Kinder als auch für die Väter sehr belastend und schmerzhaft ist. Das kann zum Suizid von Männern führen – und: Depression ist die psychische Erkrankung mit dem höchsten Suizidrisiko.

 

Fazit

Es ist äusserst wichtig, psychosoziale und juristische Fachleute über das Phänomen der elterlichen Entfremdung zu informieren. Es gibt bereits einige Bemühungen in diese Richtung. In Frankreich werden beispielsweise Fortbildungskurse zum Thema elterliche Entfremdung für Anwälte, Polizeibeamte, Sozialarbeiter und Psychologen angeboten. Opfer von elterlicher Entfremdung sowie Väter, die von ihren Kindern entfremdet wurden, sollten von Fachleuten der psychischen Gesundheit und der gesamten Gesundheitsversorgung begleitet werden. Das Thema der elterlichen Entfremdung braucht nicht nur mehr Aufmerksamkeit von juristischen und psychologischen Fachleuten, sondern auch vom Gesetzgeber. Kinder und Jugendliche müssen die Möglichkeit haben, die bestmögliche Beziehung zu beiden Elternteilen aufrechtzuerhalten. Und: auch entfremdete Elternteile sollen vor auf Manipulationen beruhenden Kontaktabbrüchen geschützt werden. Dies ist für ihre psychische Gesundheit dringend notwendig.​​​​​